von
André Wyrwa
Einer der großen Vorzüge, die sich der Mensch den Tieren gegenüber zuschreibt, ist der, entscheiden zu können, wann es sich lohnt, sich einem Problem zu stellen oder lieber davor davonzulaufen. Nun sind jedoch die Menschen bekanntermaßen sehr verschieden und so braucht es nicht viel, sich zu denken, daß es solche unter ihnen gibt, die eher geneigt sind zu kämpfen und solche, die einen Hang zum Davonlaufen haben.
Brad Pitt ist jüngst in die Rolle eines der letzteren geschlüpft. Und mit ihm schlüpfen auch wir in diese Rolle und flüchten in die Abgeschiedenheit eines romantisch-bezaubernden Fleckchens dieser Erde, ins Tibet der 40er Jahre.
Jean-Jaques Annaud, ein Name, der mir seltsam sympathisch vertraut klingt, obgleich ich ihn keinem Konkreten Machwerk zuordnen kann, verführt uns mit seinem halbdokumentarischen Epos "Sieben Jahre in Tibet" in die Illusion vom unkomplizierten Leben...und wir folgen ihm bereitwillig.
Der Film beginnt seine Geschichte zu erzählen, als Hendrik, sein Held und ein in Deutschland lebender Österreicher, Ende der 30er Jahre zum Himalaya aufbricht, um dort im Zeichen Deutschlands als Erster den Gipfel eines indischen Berges zu erklimmen.
Der Abschied von seiner schwangeren Frau erfolgt im Streit, wie man später erfährt, weil Hendrik vor der Verantwortung als Vater flüchtet. Seine Expedition jedoch verläuft nicht wie geplant, und als der Krieg zwischen Deutschland und Indien erklärt wird, gerät der schon hier als etwas eigensinnig charakterisierte Held in Schwierigkeiten.
Hier beginnt die eigentliche Geschichte des Films und deshalb höre ich auf, von ihr zu berichten. Über sie sei nur gesagt, daß sie die bezaubernde Geschichte eines fremden Mannes ist, der durch glückliche Umstände in ein abgeschiedenes Land kommt, in dem den Menschen ihr Gott noch heilig ist.
Sieben Jahre wird Hendrik in Tibet verbringen, zwei Stunden gibt uns Jean-Jaques, uns aus der realen Welt entführen zu lassen und an seinen Bildern zu erfreuen. Und wie wir uns freuen dürfen. Bildmaterial, Musik und das Zusammenspiel dieser sind vergleichbar mit dem in Filmen wie "1492 - Conquest of Paradise", "Rapa Nui" oder "Der englische Patient".
Jede Szene komponiert Annaud zu einem kleinen Kunstwerk aus wunderbaren Landschaften, harmonierenden gedämpften Farben und fernöstlichen Klängen und gibt diesen Zeit, den Zuschauer an der in ihnen liegenden Ruhe teilhaben zu lassen. Großen Beitrag liefert dazu freilich auch Brad Pitt selbst, der ja nichts besser ausstrahlen kann, als Ausgeglichenheit.
Somit läßt sich der Zuschauer gern entführen und verzaubern, taucht in die Illusion ein, es gäbe einen Ort auf der Welt, an dem das Leben noch ursprünglich und einfach wäre. Und er hegt tiefes Mitgefühl, als ihm gnadenlos klar gemacht wird, daß auch diese Geschichte ein Ende hat.
Hendrik kehrt zurück nach Deutschland, Tibet ist ein anderes, als es noch zwei Stunden zuvor war und der Abspann führt den romantisch verklärten Blick des Kinogängers sanft wieder in die Realität zurück.
"Sieben Jahre in Tibet" ist einer von jenen Filmen, die es schaffen, zu entführen, zu illusionieren, die den Zuschauer aber nicht hängenlassen, sondern ihn sanft wieder zurückholen, die die Desillusionierung nicht dem Licht der Neonröhren vor dem Ausgang des Kinos überlassen. Er ist großes Leinwandkino und sollte deshalb auch dort bewundert werden. Und obgleich er harmlos ist, verdient er sich viel Lob, weil er der Beweis ist, daß ein Film nicht klicheebeladen, oberflächlich oder lächerlich sein muß, um einfach nur zu unterhalten.
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